Bökendorf (red). Die strahlende Sonne verstärkte den schönen, gelben Farbton des spätbarocken Hauses Bökerhof, der Himmel im satten Blau, der Rasen nach dem Regen in den Tagen zuvor frisch ergrünt, ein laues Lüftchen wehte: in diesem idyllischen Ambiente im Schatten einer riesigen Blutbuche wurde in Bökendorf an den 225. Geburtstag der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff erinnert. Auf Einladung des Bökendorfer Heimatvereins hielt der renommierte Droste-Experte Dr. Jochen Grywatsch aus Münster vor dem Haus Bökerhof seinen eigens aus diesem Anlass konzipierten Festvortrag mit dem vielversprechenden Titel „Die Unzeitige: Annette von Droste-Hülshoff im Widerspruch zu ihrer Gegenwart“. Mit von der Partie war auch die Schauspielerin Christina Seck aus Paderborn. Die etwa 130 Besucher der Veranstaltung erlebten ein wahrhaft kongeniales Zusammenspiel von Literaturwissenschaft und Schauspielkunst direkt an dem Ort, wo Annette von Droste-Hülshoff mehrmals in ihrem Leben bei ihren Verwandten mütterlicherseits zu Besuch weilte.
Gleich der Start in ihr Leben war „unzeitig“, denn Annette von Droste-Hülshoff erblickte als Frühgeburt mit sieben Monaten das Licht der Welt. Das genaue Geburtsdatum ist bis heute nicht gesichert festgestellt. Nicht weniger als drei Daten des im Januar 1797 auf Burg Hülshoff geborenen Freifräuleins sind im Umlauf und Dr. Jochen Grywatsch berichtete zunächst kenntnisreich von den Gründen, die für oder gegen jedes der drei Daten sprechen. Schlussendlich kann der 10. Januar lediglich „als das wahrscheinlichste Geburtsdatum“ angenommen werden. Doch auch die Dichterin und ihr Werk selbst kann man als „unzeitig“ bezeichnen. So wundert es nicht, dass sie sich mit ihrem Werk in ihrer Gegenwart oft unverstanden fühlte und für die wahre Wertschätzung auf die Nachwelt setzte. „Ich mag und will jetzt nicht berühmt werden, aber nach hundert Jahren möcht ich gelesen werden“, lautet ihr berühmtes Bonmot, welches die Dichterin im Juli 1843 in einem in Abbenburg verfassten Brief an ihre Freundin Elise Rüdiger schrieb. Die Autorin war sich des Unzeitigen ihres Werks nur allzu bewusst. Grywatschs Vortrag behandelte Annette von Droste-Hülshoffs so besonderes Leben und Schaffen im Kontext der Auseinandersetzungen mit einer oft reglementierenden Gegenwart und den schwierigen Bedingungen ihrer Zeit. Der unmittelbare Einfluss von Konflikterfahrungen und Glaubenszweifeln der Dichterin auf ihr literarisches Schaffen belegte der Festredner dann quasi de facto anhand ausgesuchter Gedichte und Auszügen aus Briefen, die von Christina Seck vorgetragen wurden. Unter anderem waren das Jugendgedicht „Unruhe“, die lyrische Klage um den „zu früh geborenen Dichter“, das sehnsuchtsvolle Gedicht „Am Turme“ und natürlich „Die Taxuswand“ zu hören, wobei im Letzteren die Dichterin die in Bökendorf im Jahre 1820 erlittene sogenannte „Jugendkatastrophe“ verarbeitet hat. Mit einer hohen Intensität und Präsenz rezitierte die aus Bökendorf stammende Christina Seck sehr emotional die Texte der Dichterin: mal leise und mal laut, mal melancholisch und mal fröhlich, mal bedächtig und mal rasend schnell, immer mit einem sicheren Gespür für den Text und der darin enthaltenen Situation. Man glaubte fast, die Stimme der Dichterin selbst zu hören, zumindest aber einen kleinen Einblick in ihr Seelenleben bekommen zu haben. Besonders eindrucksvoll und lebhaft wurde von Seck die Ballade „Der Graue“ vorgetragen. Die Kombination mit aufschlussreichen Analysen und Ausführungen des Literaturwissenschaftlers einerseits und gefühlsbetonten, eindrücklichen Rezitationen der Schauspielerin anderseits begeisterte die Zuhörenden, die oftmals zwischendurch und am Ende nicht mit Applaus sparten.
Unterstützt wurde diese Veranstaltung durch den Kulturbeirat des Kreises Höxter aus Mitteln der sogenannten kleinen Kulturförderung und damit verbunden ist auch ein kleiner Zuschuss seitens der Stadt Brakel. Das waren bestens investierte Finanzmittel, denn mit dieser Veranstaltung ist es den Bökendorfern unter der Ägide des Heimatvereins gelungen, in eindrucksvoller Weise an den 225. Geburtstag der Annette von Droste-Hülshoff zu erinnern, die seinerzeit mehrmals im Kreis Höxter zu Besuch war und heute als bedeutendste Dichterin ihrer Epoche und Autorin von Weltrang gilt. Ein ganz besonderer Dank der Organisatoren ging an die Familie von Haxthausen, die das Areal vor dem Bökerhof zur Verfügung gestellt hatte, sodass die Besucher so die anfangs beschriebene wunderbare Atmosphäre am Original-Aufenthaltsort der Dichterin erleben konnten.
Foto: Heimatverein Bökendorf